Dem Alltag entgegen gerückt

Lárt pour lárt, die Kunst für die Kunst – das ist die (Victor Cousin zugeschriebene, aber lange zuvor schon bei Novalis formulierte) ubiquitäre axime, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts die rezeptive Sicht auf das Kunstwerk allmählich verengt hat. Der Zweck der Kunst bestehe in nichts anderem als in ihr selbst. Keinen anderen Absichten, ob nun moralisch, patriotisch oder lehrhaft, sei sie dienstbar zu machen außer der des Schönen. Diese ästhetische Ablehnung jeglicher Nützlichkeit hilft zwar ungemein bei der Begegnung mit Jugendstil und Impressionismus, sie führt heute aber unweigerlich zu Verständnisschwierigkeiten neuerer Strömungen wie etwa der Konzeptkunst. Was aber den blinden Fleck im Auge des Betrchters noch gehörig vergrößert, ist die damit einher gehende Vorstellung vom Wesen des schöpferisch Tätigen. Erst der Glaube, er bediene sich allein aus seinem überreichen, einem nimmer versiegenden Ideen-Füllhorn gleichenden Innenleben begründete den (besonders bei Picasso zu beobachtenden) Geniekult; der Bildende Künstler wohnt darin wie im Elfenbeinturm, dem Alltag und seinen niederen Einflüssen vollkommen entrückt.

Wolfram Odins Zuhause ist eine alte, britisch exentrische Backsteinvilla am nordöstlichen Rand der großen Stadt – ein Haus, das auf allen Fluren vom Keller bis zum Dachboden mit Kunst bespielt wird. Draußen murmelt der Wind in einem ineinander verkeilten Wald von Plastikrohren, und eine schwarzweiße Katze schleicht durch einen verwunschenen verwilderten Garten. Es wäre leicht, sich an einem solchen Ort allein den eigenen Gedanken hinzugeben und sich ins Selbst kuschelig einzuspinnen wie in einen märchenhaften Kokon.

Aber wir sind in Berlin, und die turmhohe, betontriste Plattenbausiedlung steht zu nah, um die Wirklichkeit vergessen zu können. Geradezu metaphorisch mutet das an, wie sie ihren Schatten wirft – doch Wolfram Odin ist ein Künstler, der den Einbruch der Realität in sein Dasein weniger als Bedrohung, denn als Bereicherung empfindet. Es sei an der Zeit, befindet er, so selbstbewusst wie die Amerikaner die kreativen Strukturen offen zu legen und beispielsweise ohne schiefe Seitenblicke erklären zu können, dass man seine besten künstlerischen Einfälle beim Tennisgucken bekäme.

Die Pop Art hat sich einst bei Alltagsphänomenen und Massenkulturerscheinungen bedient, Wolfram Odin bekennt sich heute ähnlich ungerührt zur Abkehr vom entrückten Geniedasein. Wir lebten ohnehin in einer Zeit der allseitigen Durchdringung, der Aufweichung sämtlicher Genregrenzen und Regeln; in der Popmusik etwa stelle sich die Frage „geklaut oder nicht geklaut“ längst nicht mehr, was zähle nach dem Sampling, sei allein ein überzeugendes Ergebnis. So offen und undogmatisch will Odin künftig auch seine Rolle als Künstler ausrichten: Das stille Haus ist umgetauft zur „art-ambulance“ es soll ein Pool zum Gedankenaustausch, zur ganzheitlichen Projektentwicklung werden – eine Nische, in der aus Kunst, Musik und Computer-anwendungen vielleicht etwas ganz neues entstehen kann.

Die rätselhafte Bezeichnung „art-ambulance“ ist mit typisch Odinschem Hintersinn gewählt; da steckt die Erste Hilfe ebenso drin wie die Geschwindigkeit modischer Events, und deshalb schwingt zudem ein Hauch Oberflächlichkeit darin mit. „Alles wird gut“ hieß die letzte Berliner Ausstellung Wolfram Odins; eine Fernsehmoderatorinnen-Floskel, mit der man der zersplitterten Welt nicht mehr habhaft werden und das persönliche Glück nicht mehr beschwören kann. Rote Rosen verblühten dazu in der gleichnamigen Installation in Küchenpapierrollen – das Symbol der Liebe wurde seiner schnöden Vergänglichkeit überführt, gar gleich einer Wisch-und Weg-Mentalität. „Liebe geht uns über alles“ hat er nun als aktuellen Titel gewählt; wie ein Werbeslogan, der das Unfassbare kess als Ware verkaufen will.

Vom stillen Kämmerlein zum „Open House“ – Wolfram Odin hat den Weg zur Gesellschaftskritik, zur hellsichtigen Bestandsaufnahme der Verhältnisse konsequent
Beschritten; Stück für Stück hat er in den späten 90er Jahren andere Medien in sein Werk einsikkern lassen. Die „hydrografischen“ Bilder etwa widmeten sich 1997/98 dem gewaltig ächzenden komplex „Menschwerdung“ noch in geradezu meditativer Versunkenheit: Mit einem Hochdruckwasserstrahl gravierte Odin archaische Wesen, halb Mensch, halb Ameise in reliefartige Farbschichten. Längst hatte er Tänzer dazu improvisieren lassen, nun überwand er auch noch das Dogma der starren Leinwand: Zu kinetischen Objekten, Venusfliegenfallen gleich, montierte er die Leinwände. Oder aber er versetzte sie mittels Membranen und eigens dafür komponierte Musik in pulsierende Schwingungen. 

„Wahrnehmungsverschiebungen“ will der Künstler, Jahrgang 1954, betreiben: Das Altbekannte, Unhinterfragte wird durch eine mitunter nur kleine Wendungzum Rätsel, dessen Lösung weiter reichende Einsichten bescheren kann. „Das letzte Mal“, eine Digitalwaagen-Installation in Anlehnung an das Abendmahl, kann etwas über eitle Obsessionen erzählen. Die in einer Torflandschaft gegossenen „Milchseen“ sind Verschwendung und Segnung der Erde zugleich. Die zwitschernden, prachtvoll farbigen Paradiesvögel im „Picnic“-Arrangement sind in Wahrheit Thermoskannen – doch ist unser Naturbegriff nicht ohnehin ein trügerisches Konstrukt?

Für seinen jüngsten Werkzyklus hat Odin Zeitungen gewälzt und die berückendsten zwischenmenschlichen Kontaktanzeigen ausgeschnitten. Er kombiniert die Texte mit leicht altmodischen Mustertapeten zum „Charakterbild“ – die hingebungsvolle Kinderliebende bekommt flauschige Teddybären, der „Porschefahrer (ohne Porsche“)
rasant rote Streifen zugeordnet. Die Tapete sei das „schöne Kleid“ für die Wand, die Anzeigenformulierungen hätten einen ähnlich ornamentalen Charakter, sagt Wolfram Odin: Diese Art der Partnersuche sei – neben dem Internet – die moderne Variante des uralten Gesellschaftsspiels, sich selbst als unwidersrehlich interessant und besonders darzustellen. Darauf kommt nicht allein zu Hause.

Carmen Böker
Redakteurin der Berliner Zeitung
 

 

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