Künstlerinformation  galerie deschler berlin
 

jenseits
 

Fassadenprojekt von
Wolfram Odin
 

In jener Nacht, wo keine Sterne blinken,
wo keines Auswegs Hoffnungsstrahlen winken,
schrick nicht zurück, wenn Deine Reihe kommt!
Der Becher kreist, und jeder muss ihn trinken. 1
 

Wolfram Odin und die Galerie Deschler nutzen die Sanierung des Hauses und der Galerieräume in der Auguststraße 61 / Ecke Große Hamburger Straße für ein aufwendiges Fassadenprojekt. 

Der international aktive Künstler beschäftigt sich mit dem Thema "Zeitungsinserate" als Spiegel der heutigen Gesellschaft. Odin untersucht und dokumentiert die Vielschichtigkeit unserer heutigen "Anzeigenkultur" in der Tagespresse. Sein erster Werkkomplex widmete sich Liebes- und Kontaktannoncen, jetzt richtet er seinen Fokus auf das Thema Todesanzeigen und Nachrufe.

Wenn es in etwa ein bis zwei Generationen durch die Siege der Genforschung keinen Schmerz mehr geben wird ist auch das Aufgeben von Traueranzeigen als eine Art zeitgenössischer Totenkult überflüssig geworden. Menschliche Klone werden die Produktreihen und die Labors, in denen ihr Genpool zusammen gemixt wurde, kennen, aber kaum noch so seltsame Dinge wie Vater und Mutter oder Verwandte. Dysfunktionale Gefühle wie Liebe oder Liebesschmerz, Kummer, Trauer oder blanke Verzweiflung haben in der genoptimierten Zukunft möglicherweise keinen Platz mehr, dafür aber eine Option auf ein langes oder ewiges Leben. Im Widerspruch dazu wird heute immer noch gestorben und getrauert. 2

Im Fassadenprojekt „jenseits“ zeichnet Odin ein subjektives Bild deutscher Geschichte des letzten Jahrhunderts durch Persönlichkeiten nach. Es handelt sich dabei  vielfach um Menschen, von deren Existenz der Zeitungsleser erst durch die Todesanzeige erfährt, als erfülle sie den Zweck  eine Vergewisserung zu geben, dass die Betroffenen tatsächlich gelebt haben. Da sind die Klassenkameraden aus Breslau, die sich ihrer toten Kameraden aus dem Zweiten Weltkrieg erinnern, einschließlich der Jungen, die aus rassischen Gründen bzw. Befehlsverweigerung in Remagen starben. Da ist die Tierschützerin Prof. Ingeborg Bingener, die sich gegen Tierquälerei in der Massentierhaltung ausspricht. Dann gibt es noch Prof. Götz Friedrich, der über viele Jahre die Opernlandschaft in Berlin geprägt hat oder den Galeristen Dr. Rainer Borgemeister, der erst kürzlich durch einen tragischen Unfall ums Leben kam. Ausserdem gibt es eine Gedenkanzeige an den großen Dramatiker Heiner Müller und den unvergessenen Magier Joseph Beuys. Sie alle stehen mit ihren Biographien für das letzte Jahrhundert deutscher Geschichte.

So unterschiedlich die Lebensläufe der hier aufgeführten Menschen sind, allen gemeinsam ist eine Todesanzeige in einer der großen Tageszeitungen. Odin sammelt diese Anzeigen und führt sie uns in verfremdeter Form ein zweites Mal vor Augen. Der Tod wird so bei seinem Fassadenprojekt mitten in die Stadt gestellt, wie ein Stachel im Fleisch der rastlosen Eventkultur.

1  Familienanzeige Rudolf Stock, Tagesspiegel, 18.02.2001
2  In Anlehnung an einen Text von Peter Laudenbach, „Zeige deine Wunde“, Tip Nr. 4/01
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Auguststraße 61, 10117 Berlin (Mitte), Tel. ++ 49 30 283 32 88, Fax 283 32 89
 

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